Montag, 9. Januar 2012

2011-12-23 Vor dem Vier-Sterne-Hotel

Füllen Sie die Registrierung bitte vollständig aus
Familie Narayan sieht vor ihrem Hotel zum ersten Mal Schnee. Sie sieht ihn nicht nur - sie fühlt ihn, winzige, eisige Winterküsse. Auf der Zunge, auf den Fingern, auf der Nasenspitze, in den Ohrlöchern.

Erwartete Ankunftszeit der Gäste: 22.12.2011, nach 8 Uhr abends
Offiziell sah Familie Narayan den Schnee schon gestern abend zum ersten Mal, auf der Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel. Aber sie verließen nur kurzzeitig die Wärme der Flughagenlobby, wettermäßige Normalität vortäuschend, und meinten, auf dem kurzen Weg zum Taxi zu erfrieren. Der Schock der Kälte war zu groß, um die nassen Flocken wahrzunehmen, die in Gesichter und Handflächen peitschten.
Aus den Taxifenstern sah die Welt dunkel und sehr mühsam aus. Sie sahen alte Leute, die sich den Weg durch das Wetter arbeiteten. Ihnen erschien es wie ein Schneesturm.

Nothing special, meinte der Taxifahrer, just winter.

Unser abwechslungsreiches Frühstückbuffet erwartet sie ab 7:30 Uhr
Der Tag hat etwas unerfreulich mit einem unerträglichen Frühstücksbuffet begonnen. Alle vier haben fast nichts gegessen. Zum größten Teil bestand das Frühstück aus trockenen, rundlichen Gebäckteilen, die ein unangenehmes Völlegefühl im Magen hervorrufen, aber nach nichts schmecken. Sie beobachteten die anderen Gäste, die das Gebäck anscheinend mit Butter erträglich zu gestalten versuchten und es mit dünnen Käse- und häßlichen, rohen Fleischscheiben belegten. Die Kinder hatten noch nie etwas so fades und schwer verdauliches gegessen. Gewürze gab es nicht, nur Salz und Pfeffer. Letzten Endes aßen sie alle ein paar Eier, die aber gänzlich verkocht und kaum zu schälen waren. Herr Narayan weiß bereits, was er als nächstes googeln wird: indische Restaurants. Gegenüber des Hotels gibt es sogar einen Asia Shop, den werden sie als nächstes aufsuchen.

Genießen Sie die Lage unseres Hotels inmitten der Weltstadt mit Herz
Herr Narayan stellte gestern abend außerdem noch fest, dass das Hotel direkt neben einer Bibliothek liegt - "Stadtbücherei" versucht er zu lesen, aber er scheitert an dem Umlaut und dem seltsamen "ch". Er googelt noch abends im Hotelzimmer, ob es dort Bücher von seinem Großvater gibt. Tatsächlich stößt er auf 10 Einträge. Wie merkwürdig, den Namen seines Großvaters hinter den fremdsprachigen, unverständlichen Buchtiteln zu lesen. Seinen eigenen Namen, in einem fremden, klobigen Backsteingebäude, kein Banyanbaum weit und breit, nur blätterlose, von der Nässe geschwärzte Baumgerippe, die sich ohne ihr Laub nicht einmal identifizieren lassen. Herr Narayan würde gerne sehen, wie häufig die Bücher seines Großvaters in dieser unbekannten Welt gelesen werden, aber dazu gibt es keine Angaben. Er nimmt sich vor, in den nächsten Tagen in der Bibliothek den zehn Büchern einen Besuch abzustatten.

Mit dem My Little Hotel VIP Programm werden Ihre Kinder am eigenen Check-in begrüßt. Hier bekommen Sie einen Teddy Bär und einen Rucksack gefüllt mit Willkommensgeschenken.
Heute morgen sind die beiden Kinder vom Schnee begeistert. Hanuman klettert lachend auf einen kleinen, steinernen Bären. Seine Mutter sorgt sich, weil der Stein sehr kalt ist, und zehrt noch einmal die Handschuhe gerade. Der Wind hat nachgelassen und der Schnee peitscht nicht mehr durch die Straßenschluchten und in die nassen Gesichter. Die Flocken sind so dick und flauschig, sie sehen aus wie Kunsttschnee aus Bollywoodfilmen. Sie fühlen sich nicht mehr wie Nagelstiche an, sondern landen beinahe zärtlich auf Sitas unglaublich langen Wimpern. Sie versucht die Flocken mit ihren Händen festzuhalten, und ist enttäuscht, dass sie in ihren warmen, kleinen Handflächen sofort wegschmelzen. In den weißen, langsam fallenden Flocken osziliiert das Blaulicht des Krankenwagens, der auf der anderen Seite des Platzes auf den Straßenbahnschienen steht.

Wie hat Ihnen Ihr Aufenthalt gefallen?
Frau Narayan wird dieser Tag und diese Reise aber nicht wegen des Schnee unvergeßlich bleiben, noch wegen des dürftigen Frühstücks. Gestern abend war ihre zweijährige Tochter depressiv. Frau Narayan hat die ganze Nacht nicht geschlafen.
Ihr Tochter bekam ihm Waschbecken des Badezimmers ihr abendliches Bad. Nichts ist vergnüglicher, als ihr dabei zuzusehen. Sie planscht, sie rührt das Badewasser in ihrem kleinen Spielkochtopf, sie singt, sie malt mit dem Wassermalstift Kringel an den Beckenrand.
Aber plötzlich hält sie inne.
Mama, sagt sie langsam, Mama, empty. Sie hebt den Kochtopf in die Höhe. Es scheint, sie habe plötzlich entdeckt, dass ihr Spiel und das Kochen nur in ihrer Einbildung existieren. Der Topf ist ja leer! Er ist immer leer gewesen!
Sie sieht ihre Mutter mit abgrundtiefen Augen an, und senkt dann ihren Blick. Frau Narayan hat den Eindruck, das kleine Mädchen schäme sich.
Oder sie mache ihrer Mutter einen stummen Vorwurf: warum hast du mir nichts davon gesagt.
Sie ist zwei Jahre alt. Ihre Arme hängen schlaff im grünlichen Wasser des Erkältungsbades, welches ihre Mutter vorsorglich benutzt hat. Vielleicht ist das ganze Leben eine Illusion. Vielleicht sind alle Töpfe leer. Vielleicht ist alles, was Spaß macht, erfunden. Vielleicht tun alle nur so.Vielleicht gibt es Spaß überhaupt nicht. Vielleicht ist das Beste am Leben schon vorbei.
Frau Narayan versucht, sie aufzumuntern. Sie planscht mit dem Wasser. Sie läßt den violetten Spielzeug-Rochen ein Lied singen. Sie verdreht ihre Augen. Sie kitzelt Sita. Sie fährt laute, kreisrunde Wege mit dem kleinen Plastikboot. Sie singt selbst ein Lied.

Sita sitzt stumm im Wasser und rührt sich nicht. Ein großer Wassertropfen löst sich von ihren Wimpern und läuft über ihre Wange. Sie sagt langsam, während sie den Kopf schüttelt: No, Mama, No.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen