Wieso denkt Robert an Ansgar?
Als Robert den Bahnsteig der S-Bahn erreicht, überhört er eine etwas verhärmt wirkende Mitvierzigerin über deren Sohn klagen. Offenbar hat er ein paar Probleme mit seiner Computersucht, falls es das gibt, und nach seiner Mutter auch insgesamt mit seiner Lebenseinstellung.
Als Robert den Bahnsteig der S-Bahn erreicht, überhört er eine etwas verhärmt wirkende Mitvierzigerin über deren Sohn klagen. Offenbar hat er ein paar Probleme mit seiner Computersucht, falls es das gibt, und nach seiner Mutter auch insgesamt mit seiner Lebenseinstellung.
Wie lange ist Ansgar schon tot?
Wie alt ist Robert seitdem geworden? Wie alt wurde Ansgar nie?
Wie alt ist Robert seitdem geworden? Wie alt wurde Ansgar nie?
Woher kannte Robert Ansgar?
Robert war fast ein Jahr älter als Ansgar, und eher zufällig im selben Schuljahrgang gelandet. Seit seinem Tod, denkt er, habe ich noch einmal solange gelebt.
Robert war fast ein Jahr älter als Ansgar, und eher zufällig im selben Schuljahrgang gelandet. Seit seinem Tod, denkt er, habe ich noch einmal solange gelebt.
Wieso friert Robert plötzlich?
Ein Zug füllt den Bahnsteig. Es zieht. Ich habe noch einmal solange gelebt, und Ansgar nicht.
War es das wert, Robert?
Wer weiß, ob die letzten Jahre es wert waren, und Robert denkt an sein Zimmer, das er mit dem Teilzeitgehalt der Deutschen Post kaum bezahlen kann. Aber Ansgar hätte das sicher gerne für sich selbst herausgefunden.
Warum stehst Du so dumm herum?
Robert setzt sich auf die eisigkalten, vergitterten Sitzgelegenheiten, von denen gerade eine frei geworden ist. Nach Ansgars Tod träumte ihm ständig, er träfe ihn auf dem Schulhof, und im Traum stritt er sich mit ihm, über den Fahrradparkplatz, oder Ansgars Rolle als Klassensprecher. Und vor allem über seinen Computer. Wenn Robert von diesen Träumen aufwachte, dachte er einen Moment lang: er ist nicht tot, ich wußte es, wie könnte er, einen kurzen Moment lang, bevor die Wirklichkeit sein Zimmer zu füllen begann wie sich unauffällig ausbreitende, unangenehm riechende Gasmoleküle.
Gasmoleküle?
Tatsächlich ist Ansgar Klassensprecher gewesen, Robert versucht sich zu erinnern. Es muß das Jahr gewesen sein, in dem Ansgar sitzenblieb. Die Sitzbänke am S-Bahnsteig werden Robert zu kalt, er steht auf und starrt auf die Werbetafeln an der Tunnelwand. Er erinnert sich an die Witze, die er über Ansgar gemacht hat, wie alle. Alle anderen aber sind mit Angar nicht befreundet gewesen. Er erinnert sich an Ansgars Schwierigkeiten beim Laufen, die etwas mit seinem Herzfehler zu tun hatten, den ungewohnten Rhythmus der langen, hageren Beine, deren Fußenden wie verlangsamt und seltsam flach am Boden ankommen zu schienen. Er erinnert sich an die Witze über Ansgars Karrierepläne als Bundeskanzler, zu einer Zeit, in der jeder in Ansgars oder Roberts Alter nur einen, ewigen Kanzler kannte.
Und an welche Witze erinnert Robert sich mehr als an andere?
Und an welche Witze erinnert Robert sich mehr als an andere?
Er erinnert sich an die Witze über seine wachsende Leidenschaft für Computerspiele. Robert nannte es Sucht. Ansgar verneinte. Sie stritten sich. Robert fand, dass Ansgar verdummte. Ansgar war verärgert. Sie sprachen kaum miteinander. Robert verhöhnte Ansgar, wenn er sich ungeschickt anstellte. Ansgar zog sich in den viel zu kleinen Schülersitz zurück, er sagte nichts mehr. Seine merkwürdig langen, knochigen Finger spielten mit seinem Füller. Er zeichnete in seine Hefte, in die er niemanden blicken ließ. Sein Höhepunkt, Klassensprecher zu sein, wurde auch sein Desaster, denn er hatte schon längst begonnen, sich für nichts und vor allem niemanden in der Schule zu interessieren. Dann ist er sitzengeblieben, und Robert sah ihn nicht mehr. Sie sprachen nie wieder ein Wort miteinander.
Wie fühlt sich das an, Robert?
Schuld, denkt Robert, so fühlt sich Schuld an. Weil ihn fröstelt, wippt er auf seinen Beinen hin und her.
Werden diese Bahnhöfe überhaupt nicht beheizt?
Als ein Freund erzählte, Ansgar sei tot, hatte der Freund gelacht: du glaubst gar nicht, wie abgefahren der gestorben ist. Robert hat auch damals als allererstes den bitteren Geschmack der Schuld im Mund gehabt. Der Freund erzählte, wie Ansgar, seit Tagen nicht in der Schule, Computer gespielt hatte, Tag und Nacht, ohne zu essen, kaum zu trinken, bis sein Herz streikte. Sein angeborener Herzfehler war tödlich gewesen.
Wieso ist das witzig, Freund?
Wie eine Struwelpetergeschichte! meinte der Schulfreund. Jetzt mischte sich ein dumpfes Trauergefühl im Magen in den Schuldgeschmack, Robert kann es jetzt noch fühlen, hier am S-Bahnsteig am Rosenheimer Platz. Robert denkt an Ansgars Mutter, die sich immer viele Sorgen wegen seines Herzens gemacht hat, und ständig davon sprach. Sie arbeitete in der Bahnhofsmission, wo Ansgar und Robert manchmal Berliner abgeholt hatten.
Werden die hier nicht Krapfen genannt?
Ihre Sorgen, am Ende, waren berechtigt. Ein paar Wochen später sah Robert sie auf der Beerdigung, klein, gekrümmt, und nicht ansprechbar.
Werden diese Bahnhöfe überhaupt nicht beheizt?
Als ein Freund erzählte, Ansgar sei tot, hatte der Freund gelacht: du glaubst gar nicht, wie abgefahren der gestorben ist. Robert hat auch damals als allererstes den bitteren Geschmack der Schuld im Mund gehabt. Der Freund erzählte, wie Ansgar, seit Tagen nicht in der Schule, Computer gespielt hatte, Tag und Nacht, ohne zu essen, kaum zu trinken, bis sein Herz streikte. Sein angeborener Herzfehler war tödlich gewesen.
Wieso ist das witzig, Freund?
Wie eine Struwelpetergeschichte! meinte der Schulfreund. Jetzt mischte sich ein dumpfes Trauergefühl im Magen in den Schuldgeschmack, Robert kann es jetzt noch fühlen, hier am S-Bahnsteig am Rosenheimer Platz. Robert denkt an Ansgars Mutter, die sich immer viele Sorgen wegen seines Herzens gemacht hat, und ständig davon sprach. Sie arbeitete in der Bahnhofsmission, wo Ansgar und Robert manchmal Berliner abgeholt hatten.
Werden die hier nicht Krapfen genannt?
Ihre Sorgen, am Ende, waren berechtigt. Ein paar Wochen später sah Robert sie auf der Beerdigung, klein, gekrümmt, und nicht ansprechbar.
Warum drehst Du Dich um, Robert?
Unwillkürlich dreht Robert sich nach der Mutter um, die kurz vorher über ihren Sohn geklagt hatte, als würde ein Müttervergleich ihm weiterhelfen. Aber sie ist schon verschwunden. Robert bleibt mit seiner Erinnerung allein.
Noch einmal die Frage: wie fühlt sich das an, Robert?
Sie fühlt sich an wie immer: bitter im Nachgeschmack, und dumpf in der Magengrube.
Noch einmal die Frage: wie fühlt sich das an, Robert?
Sie fühlt sich an wie immer: bitter im Nachgeschmack, und dumpf in der Magengrube.