Mittwoch, 28. Dezember 2011

2011-12-23 S-Bahnsteig

Wieso denkt Robert an Ansgar?
Als Robert den Bahnsteig der S-Bahn erreicht, überhört er eine etwas verhärmt wirkende Mitvierzigerin über deren Sohn klagen. Offenbar hat er ein paar Probleme mit seiner Computersucht, falls es das gibt, und nach seiner Mutter auch insgesamt mit seiner Lebenseinstellung.

Wie lange ist Ansgar schon tot? 
Wie alt ist Robert seitdem geworden? Wie alt wurde Ansgar nie?

Woher kannte Robert Ansgar?
Robert war fast ein Jahr älter als Ansgar, und eher zufällig im selben Schuljahrgang gelandet. Seit seinem Tod, denkt er, habe ich noch einmal solange gelebt.

Wieso friert Robert plötzlich?
Ein Zug füllt den Bahnsteig. Es zieht. Ich habe noch einmal solange gelebt, und Ansgar nicht.


War es das wert, Robert?
Wer weiß, ob die letzten Jahre es wert waren, und Robert denkt an sein Zimmer, das er mit dem Teilzeitgehalt der Deutschen Post kaum bezahlen kann. Aber Ansgar hätte das sicher gerne für sich selbst herausgefunden.

Warum stehst Du so dumm herum?
Robert setzt sich auf die eisigkalten, vergitterten Sitzgelegenheiten, von denen gerade eine frei geworden ist. Nach Ansgars Tod träumte ihm ständig, er träfe ihn auf dem Schulhof, und im Traum stritt er sich mit ihm, über den Fahrradparkplatz, oder Ansgars Rolle als Klassensprecher. Und vor allem über seinen Computer. Wenn Robert von diesen Träumen aufwachte, dachte er einen Moment lang: er ist nicht tot, ich wußte es, wie könnte er, einen kurzen Moment lang, bevor die Wirklichkeit sein Zimmer zu füllen begann wie sich unauffällig ausbreitende, unangenehm riechende Gasmoleküle.

Gasmoleküle?
Tatsächlich ist Ansgar Klassensprecher gewesen, Robert versucht sich zu erinnern. Es muß das Jahr gewesen sein, in dem Ansgar sitzenblieb. Die Sitzbänke am S-Bahnsteig werden Robert zu kalt, er steht auf und starrt auf die Werbetafeln an der Tunnelwand. Er erinnert sich an die Witze, die er über Ansgar gemacht hat, wie alle. Alle anderen aber sind mit Angar nicht befreundet gewesen. Er erinnert sich an Ansgars Schwierigkeiten beim Laufen, die etwas mit seinem Herzfehler zu tun hatten, den ungewohnten Rhythmus der langen, hageren Beine, deren Fußenden wie verlangsamt und seltsam flach am Boden ankommen zu schienen. Er erinnert sich an die Witze über Ansgars Karrierepläne als Bundeskanzler, zu einer Zeit, in der jeder in Ansgars oder Roberts Alter nur einen, ewigen Kanzler kannte.

Und an welche Witze erinnert Robert sich mehr als an andere?
Er erinnert sich an die Witze über seine wachsende Leidenschaft für Computerspiele. Robert nannte es Sucht. Ansgar verneinte. Sie stritten sich. Robert fand, dass Ansgar verdummte. Ansgar war verärgert. Sie sprachen kaum miteinander. Robert verhöhnte Ansgar, wenn er sich ungeschickt anstellte. Ansgar zog sich in den viel zu kleinen Schülersitz zurück, er sagte nichts mehr. Seine merkwürdig langen, knochigen Finger spielten mit seinem Füller. Er zeichnete in seine Hefte, in die er niemanden blicken ließ. Sein Höhepunkt, Klassensprecher zu sein, wurde auch sein Desaster, denn er hatte schon längst begonnen, sich für nichts und vor allem niemanden in der Schule zu interessieren. Dann ist er sitzengeblieben, und Robert sah ihn nicht mehr. Sie sprachen nie wieder ein Wort miteinander.


Wie fühlt sich das an, Robert?
Schuld, denkt Robert, so fühlt sich Schuld an. Weil ihn fröstelt, wippt er auf seinen Beinen hin und her.

Werden diese Bahnhöfe überhaupt nicht beheizt? 
Als ein Freund erzählte, Ansgar sei tot, hatte der Freund gelacht: du glaubst gar nicht, wie abgefahren der gestorben ist. Robert hat auch damals als allererstes den bitteren Geschmack der Schuld im Mund gehabt. Der Freund erzählte, wie Ansgar, seit Tagen nicht in der Schule, Computer gespielt hatte, Tag und Nacht, ohne zu essen, kaum zu trinken, bis sein Herz streikte. Sein angeborener Herzfehler war tödlich gewesen.

Wieso ist das witzig, Freund?
Wie eine Struwelpetergeschichte! meinte der Schulfreund. Jetzt mischte sich ein dumpfes Trauergefühl im Magen in den Schuldgeschmack, Robert kann es jetzt noch fühlen, hier am S-Bahnsteig am Rosenheimer Platz. Robert denkt an Ansgars Mutter, die sich immer viele Sorgen wegen seines Herzens gemacht hat, und ständig davon sprach. Sie arbeitete in der Bahnhofsmission, wo Ansgar und Robert manchmal Berliner abgeholt hatten.

Werden die hier nicht Krapfen genannt?
Ihre Sorgen, am Ende, waren berechtigt. Ein paar Wochen später sah Robert sie auf der Beerdigung, klein, gekrümmt, und nicht ansprechbar.

Warum drehst Du Dich um, Robert?
Unwillkürlich dreht Robert sich nach der Mutter um, die kurz vorher über ihren Sohn geklagt hatte, als würde ein Müttervergleich ihm weiterhelfen. Aber sie ist schon verschwunden. Robert bleibt mit seiner Erinnerung allein.

Noch einmal die Frage: wie fühlt sich das an, Robert?
Sie fühlt sich an wie immer: bitter im Nachgeschmack, und dumpf in der Magengrube.

Freitag, 23. Dezember 2011

2011-12-23: S-Bahnsteig Rosenheimer Platz

                            so geht das den ganzen tag, tag und nacht, schon seit wochen, klagt die angestellte, ein roter schal, eine veraltete brille mit goldrand, eine ungepflegte und auch sonst geschmacklose dauerwelle, und scheint die unverbindliche freundlichkeit ihrer kollegin als einladung zu empfinden, ihre s-bahn gerade verpaßt, und die nächste hat verspätung, achtung – einfahrender zug schreit die videoreklame, er macht nichts, nichts, nichts, sitzt nur an seinem Computer, ich kann sagen was ich will, schreib bewerbungen, hör dich um, geh zum jobcenter, nichts, die befreundete kollegin bemüht sich verzweifelt zu verbergen, wie oft sie die geschichte schon gehört hat, vor zwei monaten hatte ich mal hoffnung, da war er beim arbeitsamt, und hat sich irgendwo angemeldet, ein kurs oder so, da haben wir bewerbungsfotos gemacht, ich habe ihm einen anzug gekauft, aber was ist passiert, bundespräsident entschuldigt sich wegen kreditkrise, als der kurs dann angefangen hat, ist er gar nicht hingegangen, worum gings in dem kurs denn, fragt die kollegin, glücklich eine passende frage gefunden zu haben, irgendwas mit bewerbungsschreiben, lebst du schon oder wohnst du wirklich, wirklich immer noch, ein einfahrender zug läßt die ausgefransten dauerwellen wippen, sie schließt wegen des luftdrucks die bitteren, blassen augen hinter der übergroßen brille, aber du tust, was du kannst, sagt die kollegin, glücklich eine tröstliche anmerkung erfunden zu haben, keine ahnung, wie das weitergehen soll, ich hoffe nur, das irgendwann das abo von seinem computerspiel platzt, geld bekommt er von mir nicht mehr, wollen sie ihre kröten nicht lieber behalten, und irgendwann ist der zuschuß von seinem vater auch aufgebraucht, zu essen geb ich ihm, sonst nichts, da hast du ganz recht, merkt die kollegin an, glücklich etwas zustimmendes sagen zu können, aber ich habs so dicke, ich weiß nicht mehr was ich tun soll, ihre müden, eigentlich recht harschen wangen fallen im sog der wieder anfahrenden s-bahn weiter ein,  und sie denkt an den notarztwagen, den sie gerade noch auf den straßenbahnschienen am rosenheimer platz hat halten sehen, der alte mann lag hilflos am boden, wer weiß, wie das weiter gehen soll, aber vielleicht gibt es auch schlimmeres

2011-12-23: Zwischengeschoß des S-Bahnhofs Rosenheimer Platz

Robert ist eher ausversehen auf den Treppenstufen gelandet, die zur S-Bahn hinunterführen. Die verschnupfte Masse hat ihn von der Rolltreppe verstoßen, und kaffeesehnsüchtig und noch ein wenig verwirrt vom Anblick des hilflosen Mannes, der auf den Straßenbahngleisen in den Krankenwagen getragen wurde, steigt er die Stufen hinab, die plötzlich kehrt machen und sich von der langen, endlosen Rolltreppe hinwegdrehen. Der gedrungene Betonkasten des Treppenhauses, kaum begangen, endet in einem Zwischengeschoß, nein, endet nicht, es geht links unten weiter, doch gefühlt endet hier die Welt. Es ist fast so dunkel wie am Rosenheimer Platz an einem frühen Dezembermorgen, bevor die Weihnachtsdekoration eingeschaltet wird. Es riecht schlecht, offensichtlich wird das Treppenhaus doch manchmal noch benutzt. Im Hintergrund fährt eine S-Bahn, unter seinen Füßen, über seinen verfrorenen Ohren, sie können es kaum unterscheiden. Als Robert sich gerade auf dem Treppenabsatz umwenden will, um den nächsten Teil des Abstiegs in Angriff zu nehmen, öffnet sich plötzlich eine vorher nicht vorhandene Tür in der  Waschbetonwand. Ein Bauarbeiter erscheint, vielleicht hat er sich gewundert, wer denn hier vorbeiläuft. Hinter seinem gelben Schutzhelm leuchtet es.
Robert bleibt stehen. Darf ich mal hinein schauen? 

Klar. Hier wird gebaut. Nichts Besonderes.

Der Raum hinter der Tür ist riesig. Robert wundert sich, dass ein solcher Saal unter den Rosenheimer Platz passt. Ich bin doch nur ein paar Stufen hinuntergestiegen, denkt er sich. Das Licht kommt von einer konisch geformten Pendelleuchte, die über einem Tisch sitzt, an dem mehrere Arbeiter gerade ein Frühstück einnehmen und eine Zeitung betrachten. Abgesehen von dem einfachen Tisch und drei Klappstühlen ist der Raum völlig leer. Plötzlich merkt Robert, dass der Saal endlos ist. Das kann doch nicht der Rosenheimer Platz sein. Das ist ein Universum. Der Lichtpegel der Industrieleuchte vergrößert sich, die Lüftungsschächte an der Decke verschwimmen in seinem Licht, Robert fühlt einen steten, kräftigen Sog, dem er nur widerstehen kann, weil er seine Augen auf den einen, schwarzen Punkt fixiert, den Schirm der Leuchte, von dem aus alles sich verändert. Wer hätte gedacht, was sich unter dem Rosenheimer Platz so alles verbirgt. Konzentriert auf die massive Schwärze des Lampenkorpus sieht er in seinen Augenwinkeln das Licht in farbigen Kurven schwingen, die sich an den Rändern spiralförmig schäumen. Klar, denkt er, Fraktalgeometrie, auch das Licht baut Apfelbrotmännchen, aber er wagt es nicht, genauer hin zu sehen, und mit aller Anstrengung bleibt sein Blick auf dem Mittelpunkt der Welt ruhen, umbilicus urbis, Unter- und Oberwelt verbinden sich, aber er sieht nur aus dem Augenwinkel, und kann nur ahnen, wie das Licht sich entscheidet, geometrischen Formen nicht mehr zu gehorchen, sondern in einem Schrei, einer Welle, unberechenbar, aufzusteigen, und die Wände, längst verschwunden, zu verschlingen.

Genug gesehen? Ich muß wieder zumachen. 

Der Bauarbeitet verschwindet hinter der Tür. Die Konturen der Tür zeichnen sich von der kühlen, eingedunktelten Betonwand kaum ab. Vielleicht gibt es keine Tür, denkt Robert, und wendet sich wieder dem Treppenabstieg zu, der zu den S-Bahngleisen führt.

2011-12-13: An den Straßenbahngleisen Rosenheimer Platz

An der Tramhaltestelle sind die Gleise blockiert. Ein Notarztwagen hat sich über den Rasen geschoben. Auf der Bahre liegt ein alter Mann. Von seiner Bahre sieht er in den grauen Himmel, nur spärlich beleuchtet von einem Leuchtkörper, der im Sommer bessere Zeiten hatte. Er versucht, sich zu erinnern. Nein, zunächst versucht er, sich zu orientieren. Das mit dem Himmel hat er schon verstanden. Gut, das ist also oben. Und es ist kalt. 
Nun erinnert er sich. Es ist Winter, daher ist es kalt. 
Oben der Himmel, Unten fühlt sich hart an. Er fühlt mit seinen Händen, und merkt, dass er hochgehoben wird, er liegt auf etwas Hartem. Der Himmel ist eingerahmt von Köpfen. Er versucht sie zu unterscheiden, vielleicht sogar zu erkennen. Wen kenne ich, denkt er. Wen kenne ich. Jetzt beginnt die Erinnerung, zunächst nur Schwärze, die sich langsam liftet. 
Er meint, sehr lange nicht da gewesen zu sein. Falls vorher etwas gewesen ist, dann vor sehr, sehr langer Zeit.  Die Kälte hilft ihm: ja, es war auch vorher kalt, aber er hat nicht gelegen. 
Er hat plötzlich das Bild der Straßenbahnhaltestelle vor Augen, er betrachtet die Anzeigentafel: Tram nach Grünwald, 5 Minuten. Darunter läuft ein Schriftband: witterungsbedingt kann es…   
Der Rest ist verloren. 
Die Kälte hilft ihm: ja, er hatte diesen einen Gedanken noch gehabt: noch fünf Minuten in der Kälte aushalten. Neben ihm seine Frau. 
Seine Frau! 
Er hat eine Frau. Wo ist sie? Er versucht die Köpfe um ihn herum zu betrachten, aber es fällt ihm schwer, die Profile voneinander zu unterscheiden, es sind nur schwarze Silhouetten vor dem zwar grauen, aber hellen Untergrund. Aber ihm fällt auf, dass einer der Köpfe schluchzt. Das wird wohl meine Frau sein, denkt er. 
Warum denke ich das? 
Er versucht sich an sie zu erinnern, aber viel fällt ihm nicht ein. Nichts fällt ihm ein. 
Später, denkt er, erst mal das Wichtige. 
Er kam aus der S-Bahn, meint er jetzt zu wissen, die lange, endlose Rolltreppe, in der es schrecklich zieht, junge Leute überholen sie, sie – denn sie sind zu zweit, seine Frau, die ihm in der wachsenden Erinnerung auffällt, stand hinter ihm, und sie hatte sich beschwert. 
Auch das fällt ihm wieder ein: es ist nicht ungewöhnlich, dass sie sich beschwert. 
Er lächelt. 
Ihm scheint, dass der nahestehende Kopf, den er für seine Frau hält, das Lächeln erwidert, aber er kann sich auch täuschen. Die Straßenbahngleise, der Weihnachtsmarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die viel zu kleinen Wartehäuschen. Wieder die Kälte. Sie zieht ihm in die Beine. Wohin wollten wir? Von dem Wir ist er inzwischen überzeugt. 
Es waren Wir. 
Er sieht ein, dass er von dem Wir nicht sofort auf ein Ich schließen kann, zumindest nicht auf mehr als dessen bloße Existenz. Ich existiert, denkt er, noch, wer immer Ich auch ist. Ist es die graue Schwere der Himmelsdelle, oder die Kälte, die ihm weiter in den Körper kriecht, aber die Müdigkeit lähmt seine Gedanken. Das kann doch nicht das ganze Leben sein – der harte Untergrund, der eisige Himmel, Köpfe, die nur Silhouetten sind, da muß doch noch mehr sein, irgendwo muß Ich sein, müßte Ich Ziele haben, irgendwo wollte Ich doch hin. Und, er zwingt sich zu dem Gedanken: wenn Ich irgendwo hin wollte, bin Ich auch irgendwo her gekommen. 
Wäre ich sonst so müde. 
Die schwarzen Silhouetten lösen sich vor seinen Augen in nächtliche Dunkelheit. Was er noch plötzlich noch spürt, es war ihm bisher nicht aufgefallen: einen Händedruck.