Freitag, 23. Dezember 2011

2011-12-23: S-Bahnsteig Rosenheimer Platz

                            so geht das den ganzen tag, tag und nacht, schon seit wochen, klagt die angestellte, ein roter schal, eine veraltete brille mit goldrand, eine ungepflegte und auch sonst geschmacklose dauerwelle, und scheint die unverbindliche freundlichkeit ihrer kollegin als einladung zu empfinden, ihre s-bahn gerade verpaßt, und die nächste hat verspätung, achtung – einfahrender zug schreit die videoreklame, er macht nichts, nichts, nichts, sitzt nur an seinem Computer, ich kann sagen was ich will, schreib bewerbungen, hör dich um, geh zum jobcenter, nichts, die befreundete kollegin bemüht sich verzweifelt zu verbergen, wie oft sie die geschichte schon gehört hat, vor zwei monaten hatte ich mal hoffnung, da war er beim arbeitsamt, und hat sich irgendwo angemeldet, ein kurs oder so, da haben wir bewerbungsfotos gemacht, ich habe ihm einen anzug gekauft, aber was ist passiert, bundespräsident entschuldigt sich wegen kreditkrise, als der kurs dann angefangen hat, ist er gar nicht hingegangen, worum gings in dem kurs denn, fragt die kollegin, glücklich eine passende frage gefunden zu haben, irgendwas mit bewerbungsschreiben, lebst du schon oder wohnst du wirklich, wirklich immer noch, ein einfahrender zug läßt die ausgefransten dauerwellen wippen, sie schließt wegen des luftdrucks die bitteren, blassen augen hinter der übergroßen brille, aber du tust, was du kannst, sagt die kollegin, glücklich eine tröstliche anmerkung erfunden zu haben, keine ahnung, wie das weitergehen soll, ich hoffe nur, das irgendwann das abo von seinem computerspiel platzt, geld bekommt er von mir nicht mehr, wollen sie ihre kröten nicht lieber behalten, und irgendwann ist der zuschuß von seinem vater auch aufgebraucht, zu essen geb ich ihm, sonst nichts, da hast du ganz recht, merkt die kollegin an, glücklich etwas zustimmendes sagen zu können, aber ich habs so dicke, ich weiß nicht mehr was ich tun soll, ihre müden, eigentlich recht harschen wangen fallen im sog der wieder anfahrenden s-bahn weiter ein,  und sie denkt an den notarztwagen, den sie gerade noch auf den straßenbahnschienen am rosenheimer platz hat halten sehen, der alte mann lag hilflos am boden, wer weiß, wie das weiter gehen soll, aber vielleicht gibt es auch schlimmeres

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