Freitag, 23. Dezember 2011

2011-12-13: An den Straßenbahngleisen Rosenheimer Platz

An der Tramhaltestelle sind die Gleise blockiert. Ein Notarztwagen hat sich über den Rasen geschoben. Auf der Bahre liegt ein alter Mann. Von seiner Bahre sieht er in den grauen Himmel, nur spärlich beleuchtet von einem Leuchtkörper, der im Sommer bessere Zeiten hatte. Er versucht, sich zu erinnern. Nein, zunächst versucht er, sich zu orientieren. Das mit dem Himmel hat er schon verstanden. Gut, das ist also oben. Und es ist kalt. 
Nun erinnert er sich. Es ist Winter, daher ist es kalt. 
Oben der Himmel, Unten fühlt sich hart an. Er fühlt mit seinen Händen, und merkt, dass er hochgehoben wird, er liegt auf etwas Hartem. Der Himmel ist eingerahmt von Köpfen. Er versucht sie zu unterscheiden, vielleicht sogar zu erkennen. Wen kenne ich, denkt er. Wen kenne ich. Jetzt beginnt die Erinnerung, zunächst nur Schwärze, die sich langsam liftet. 
Er meint, sehr lange nicht da gewesen zu sein. Falls vorher etwas gewesen ist, dann vor sehr, sehr langer Zeit.  Die Kälte hilft ihm: ja, es war auch vorher kalt, aber er hat nicht gelegen. 
Er hat plötzlich das Bild der Straßenbahnhaltestelle vor Augen, er betrachtet die Anzeigentafel: Tram nach Grünwald, 5 Minuten. Darunter läuft ein Schriftband: witterungsbedingt kann es…   
Der Rest ist verloren. 
Die Kälte hilft ihm: ja, er hatte diesen einen Gedanken noch gehabt: noch fünf Minuten in der Kälte aushalten. Neben ihm seine Frau. 
Seine Frau! 
Er hat eine Frau. Wo ist sie? Er versucht die Köpfe um ihn herum zu betrachten, aber es fällt ihm schwer, die Profile voneinander zu unterscheiden, es sind nur schwarze Silhouetten vor dem zwar grauen, aber hellen Untergrund. Aber ihm fällt auf, dass einer der Köpfe schluchzt. Das wird wohl meine Frau sein, denkt er. 
Warum denke ich das? 
Er versucht sich an sie zu erinnern, aber viel fällt ihm nicht ein. Nichts fällt ihm ein. 
Später, denkt er, erst mal das Wichtige. 
Er kam aus der S-Bahn, meint er jetzt zu wissen, die lange, endlose Rolltreppe, in der es schrecklich zieht, junge Leute überholen sie, sie – denn sie sind zu zweit, seine Frau, die ihm in der wachsenden Erinnerung auffällt, stand hinter ihm, und sie hatte sich beschwert. 
Auch das fällt ihm wieder ein: es ist nicht ungewöhnlich, dass sie sich beschwert. 
Er lächelt. 
Ihm scheint, dass der nahestehende Kopf, den er für seine Frau hält, das Lächeln erwidert, aber er kann sich auch täuschen. Die Straßenbahngleise, der Weihnachtsmarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die viel zu kleinen Wartehäuschen. Wieder die Kälte. Sie zieht ihm in die Beine. Wohin wollten wir? Von dem Wir ist er inzwischen überzeugt. 
Es waren Wir. 
Er sieht ein, dass er von dem Wir nicht sofort auf ein Ich schließen kann, zumindest nicht auf mehr als dessen bloße Existenz. Ich existiert, denkt er, noch, wer immer Ich auch ist. Ist es die graue Schwere der Himmelsdelle, oder die Kälte, die ihm weiter in den Körper kriecht, aber die Müdigkeit lähmt seine Gedanken. Das kann doch nicht das ganze Leben sein – der harte Untergrund, der eisige Himmel, Köpfe, die nur Silhouetten sind, da muß doch noch mehr sein, irgendwo muß Ich sein, müßte Ich Ziele haben, irgendwo wollte Ich doch hin. Und, er zwingt sich zu dem Gedanken: wenn Ich irgendwo hin wollte, bin Ich auch irgendwo her gekommen. 
Wäre ich sonst so müde. 
Die schwarzen Silhouetten lösen sich vor seinen Augen in nächtliche Dunkelheit. Was er noch plötzlich noch spürt, es war ihm bisher nicht aufgefallen: einen Händedruck.

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