Freitag, 23. Dezember 2011

2011-12-23: Zwischengeschoß des S-Bahnhofs Rosenheimer Platz

Robert ist eher ausversehen auf den Treppenstufen gelandet, die zur S-Bahn hinunterführen. Die verschnupfte Masse hat ihn von der Rolltreppe verstoßen, und kaffeesehnsüchtig und noch ein wenig verwirrt vom Anblick des hilflosen Mannes, der auf den Straßenbahngleisen in den Krankenwagen getragen wurde, steigt er die Stufen hinab, die plötzlich kehrt machen und sich von der langen, endlosen Rolltreppe hinwegdrehen. Der gedrungene Betonkasten des Treppenhauses, kaum begangen, endet in einem Zwischengeschoß, nein, endet nicht, es geht links unten weiter, doch gefühlt endet hier die Welt. Es ist fast so dunkel wie am Rosenheimer Platz an einem frühen Dezembermorgen, bevor die Weihnachtsdekoration eingeschaltet wird. Es riecht schlecht, offensichtlich wird das Treppenhaus doch manchmal noch benutzt. Im Hintergrund fährt eine S-Bahn, unter seinen Füßen, über seinen verfrorenen Ohren, sie können es kaum unterscheiden. Als Robert sich gerade auf dem Treppenabsatz umwenden will, um den nächsten Teil des Abstiegs in Angriff zu nehmen, öffnet sich plötzlich eine vorher nicht vorhandene Tür in der  Waschbetonwand. Ein Bauarbeiter erscheint, vielleicht hat er sich gewundert, wer denn hier vorbeiläuft. Hinter seinem gelben Schutzhelm leuchtet es.
Robert bleibt stehen. Darf ich mal hinein schauen? 

Klar. Hier wird gebaut. Nichts Besonderes.

Der Raum hinter der Tür ist riesig. Robert wundert sich, dass ein solcher Saal unter den Rosenheimer Platz passt. Ich bin doch nur ein paar Stufen hinuntergestiegen, denkt er sich. Das Licht kommt von einer konisch geformten Pendelleuchte, die über einem Tisch sitzt, an dem mehrere Arbeiter gerade ein Frühstück einnehmen und eine Zeitung betrachten. Abgesehen von dem einfachen Tisch und drei Klappstühlen ist der Raum völlig leer. Plötzlich merkt Robert, dass der Saal endlos ist. Das kann doch nicht der Rosenheimer Platz sein. Das ist ein Universum. Der Lichtpegel der Industrieleuchte vergrößert sich, die Lüftungsschächte an der Decke verschwimmen in seinem Licht, Robert fühlt einen steten, kräftigen Sog, dem er nur widerstehen kann, weil er seine Augen auf den einen, schwarzen Punkt fixiert, den Schirm der Leuchte, von dem aus alles sich verändert. Wer hätte gedacht, was sich unter dem Rosenheimer Platz so alles verbirgt. Konzentriert auf die massive Schwärze des Lampenkorpus sieht er in seinen Augenwinkeln das Licht in farbigen Kurven schwingen, die sich an den Rändern spiralförmig schäumen. Klar, denkt er, Fraktalgeometrie, auch das Licht baut Apfelbrotmännchen, aber er wagt es nicht, genauer hin zu sehen, und mit aller Anstrengung bleibt sein Blick auf dem Mittelpunkt der Welt ruhen, umbilicus urbis, Unter- und Oberwelt verbinden sich, aber er sieht nur aus dem Augenwinkel, und kann nur ahnen, wie das Licht sich entscheidet, geometrischen Formen nicht mehr zu gehorchen, sondern in einem Schrei, einer Welle, unberechenbar, aufzusteigen, und die Wände, längst verschwunden, zu verschlingen.

Genug gesehen? Ich muß wieder zumachen. 

Der Bauarbeitet verschwindet hinter der Tür. Die Konturen der Tür zeichnen sich von der kühlen, eingedunktelten Betonwand kaum ab. Vielleicht gibt es keine Tür, denkt Robert, und wendet sich wieder dem Treppenabstieg zu, der zu den S-Bahngleisen führt.

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