Der alte Mann spürt den Händedruck und sieht die schwankenden Scherenschnitte der Schattenprofile über ihm. Ihm wird bewußt: er lebt. Plötzlich überkommt ihn ein Wärmeschauer, und er ist sich nicht sicher, ob er von dem Händedruck ausgeht, oder von einem überraschenden Aufbäumen an Lebensfreude, oder ob er sich einfach täuscht, und die Kälte ihm Wärme vorgaukelt.
An diesem Händedruck möchte der alte Mann sich festhalten. Er muß sich eingestehen, dass es sonst nicht viel zum Festhalten gibt. Das Taktile des Händedruckes gibt ihm zu denken. Er versucht ihn zu erwidern. Er bewegt seine Finger und bemüht sich um ein langsames Anballen des Handrückens, aber er ist sich nicht sicher, ob außerhalb seiner eigenen Sinne überhaupt etwas passiert ist. Er fühlt die harte Kante, auf der er liegt, und - wie ihm scheint - seit Ewigkeiten emporgehoben wird. Kaltes Holz, in dem ein wenig Restwärme steckt. Der Handgriff seines Regenschirmes. Wo ist mein Regenschirm. Ich hatte einen Regenschirm. Ich stand an der Straßenbahnhaltestelle. Meine Frau stand neben mir. Für sie war noch Platz unter der Überdachung, ich dagegen mußte meinen Regenschirm aufspannen. Ich hatte Probleme. Der Schirm wollte nicht so recht. Ich mußte zerren und rütteln, während der Schnee mir unangenehm ins Gesicht wehte. Während ihm das alles einfällt, aber er sich nicht mehr bewußt wird, was anschließend geschah, fühlt er mit seiner linken Hand etwas Eisiges, wesentlich unfreundlicher als das Hölzerne des Liegenseitenrandes. Vielleicht der Metallrahmen der Haltestange. Es läßt seine Hand leicht zittern. Er steht wieder auf der Rolltreppe, die vom S-Bahnsteig hinaufführt, vor ihm seine Frau, die sich umdreht, weil ihre Handtasche jemandem im Weg ist, der es eilig hat. In seiner linken Hand spürt er das weiche Holz des Schirmes, rechts gerät seine Hand an das arktiskalte Aluminium der Rolltreppenrampe. Die Rolltreppe rattert unter seinen Füßen. Die eilige Person, ein junger Mann, schimpft, während er an dem alten Mann vorbeischleicht und ihn dabei leicht an das Geländer drückt. Ein wenig ängstlich erwartet er das Ende der Rolltreppe, und er schämt sich seiner Angst. Er wird sich bewußt, dass er auf der Krankenbahre liegt, aber seine Hand zittert noch ein wenig bei dem Gedanken an das Ende der Rolltreppe, hoch über ihnen, seiner Frau, ihm selbst, dem ungeduldigen, jungen Mann, die sich alle dem Ende langsam und unentwegt entgegen bewegen. Sie waren also S-Bahn gefahren, seine weiterhin namenlose Frau und er selbst. Auch der eilige Rolltreppenfahrtteilnehmer, aber noch während er an ihn dachte, erinnert er sich an dessen Irrelevanz. Er hatte ihn sicher nie getroffen, und sicher würde er ihm nie wiederbegegnen. Und wenn doch, auch das wäre bedeutungslos. Ich muß mich auf das wesentliche konzentrieren. Mich selbst. Meine Frau. Meine Angst. Ihr Ziel. Wo kam die S-Bahn her, wohin stiegen sie um. Klinikum Harlaching. Hört er plötzlich eine undeutliche Lautsprecheransage knistern. Klinikum Harlaching. Auch auf der Rolltreppe, im Zugwind der veralteteten Entlüftungsanlagen, denkt er an das Klinikum Harlaching. Er erinnert die Angst auf der Rolltreppe, und plötzlich weiß er, dass er vor dem Ende der Rolltreppe nicht Angst hat, weil er dort einen kleinen, schon tausendmal wiederholten Schritt auf festen Boden machen wird, sondern weil das Ende der Rolltreppe ihn unwiederbringlich dem Klinikum in Harlaching näher bringen wird. Und ebenso plötzlich erinnert er sich an die Augen seiner Frau, als sie sich, auf der Rolltreppe vor ihm stehend, zu ihm umdrehte, Augen, in denen kein Ärger gegenüber dem ungeduldigen, jungen Menschen stand, sondern die Angst vor dem Ende der Rolltreppe. Das Leben ist eine Rolltreppe, denkt er einen kurzen Moment, erfreut, weil ihm der Satz gefällt, während seine beiden Hände sich an Holz und Aluminium der Liege ballen, und er versucht krampfhaft in den Köpfen über ihm seine Frau zu erkennen, wenn er sich bloß für einen Moment an ihren Namen erinnern könnte. In genau diesem Moment bleibt ihm nichts als die Erinnerung an die Angst in ihren Augen, vorerst.
Und mein Name, denkt der alte Mann noch, wie lautet denn mein Name.
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