Mittwoch, 18. Januar 2012

2011-23-12 Beim Selbstbedienungsbäcker

An einem trüben Morgen, die Sonne war kaum aufgegangen, betrat Bianca Käferlein den Selbstbedienungsbäcker am Rosenheimer Platz. Es war der 23. Dezember 2011. Der Morgen war verhältnismäßig mild, trotzdem fielen langsam und vereinzelt ein paar einsame Schneeflocken. Bianca Käferlein war eine schlanke, durchaus schöne Frau, die vielleicht etwas zu viele Solarien aufgesucht hatte, um immer nach Dubai auszusehen. In Dubai hatte sie zwar tatsächlich ihren Wohnsitz, aber wer sitzt in Dubai schon in der Sonne? Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdezopf gebunden und hochgesteckt. Sie trug hellbraune Lederstiefel und eine weiße Weste. Bianca Käferlein hatte nicht gut geschlafen. Viele Sorgen und Alltäglichkeiten haben sie beschäftigt gehalten. Das vorweihnachtliche Shopping auf der Maximilianstraße am Vorabend war ein nervenraubendes Desaster. Das befreundete Architektenpaar war von einem prächtig ausgestatteten Schaufenster zum nächsten gezogen und die Anzahl der Designertüten in ihren Händen steigerte sich proportional zu den zurückgelegten Schaufenstermetern. Ähnlich proportional sanken Bianca Käferleins imaginäre Fähigkeiten, einleuchtende Gründe zu finden für die weniger proportionale Stagnation von Einkaufstaschen in ihren eigenen Händen. Bloß keinen Grund zu haben, eine Kreditkarte benutzen zu müssen, das war ihre gestrige Devise. Ihre Strategie war insgesamt aufgegangen, wenn auch erkämpft mit mühsamer, an der Maximilianstraße hoch unpassender Konzentration und der erwähnten, überstrapazierten Imagination.

So mühsam es war, nicht gezwungen zu sein, ihre gesperrten Kreditkarten zu benutzen, so nervenraubend war es, ihre Übernachtung in einer Jugendherberge zu verbergen. Sie sah sich am Ende gezwungen, es ihren Freunden gleich zu tun und ebenfalls ein Taxi zu bestellen, nur um es hinter der nächsten Straßenecke wieder im Stich zu lassen. Ihr beinahe letztes Kleingeld reichte gerade für die Grundgebühr. Bianca Käferlein lief durch die gesamte und (wie ihr schien, denn sie hatte in der Vergangenheit immer ein Taxi gerufen) erstaunlich umfangreiche Fußgängerzone in die Bahnhofsgegend, wo sie in einem Hostel ein Bett vorgemerkt hatte. Es stellte sich heraus, dass es sich um ein Bett in einem Dreibettzimmer handelte. Sie teilte sich den Raum mit einer Mutter und ihrem ungefähr fünfzehnjährigen Sohn, die beide zum ersten Mal in München waren. Die nächtliche Gegenwart des Pubertierenden erschien Bianca Käferlein höchst peinlich, aber ein eigenes Zimmer war in der notwendigerweise angefragten Preisklasse nicht zu finanzieren.

Bianca Käferlein hatte einen Selbstbedienungsbäcker nie zuvor betreten. An diesem trüben Morgen nahm sie zum ersten Mal ein Tablet in die Hand, stülpte sich einen Plastikhandschuh über und stellte indigniert fest, dass niemand sonst die Schutzhandschuhe benutzte. Sie betrachtete das Angebot und seufzte. Sie sehnte sich nach einem Lachsfrühstück mit Ei und ein wenig Sekt. Eigentlich sehnte sie sich nach einer Menge Sekt. Sie schob das Tablett einmal das Angebot entlang und dann wieder zurück. Ein paar Leute beschwerten sich, sie hatten es offenbar eilig. Auch Bianca Käferlein hatte es durchaus eilig an diesem Dezembermorgen. Sie würde das Architekturbüro ihrer Freunde für eine Präsentation benutzen und sie wußte zudem, dass das ihre einzige Möglichkeit sein würde, in den nächsten 24 Stunden das Internet kostenfrei zu nutzen. Zum Glück hatte sie mit ihrer Mutter ein Treffen in der Stadt ausgemacht und sich so die Unannehmlichkeit erspart, um Geld für die Zugfahrt bitten zu müssen. Nun wird sie mit ihrer Mutter zurückfahren können und anschließend ein paar Tage Zeit haben, in denen sie sich um Unterkunft und Verpflegung keine Sorgen machen muß. Bianca Käferlein zwang sich dazu, ihre Konzentration wieder dem Angebot des Bäckers zuzuwenden. Sie mußte etwas essen, denn sie wußte, dass von der Präsentation viel abhing. Wenn es gutlief und ein Vorvertrag heraussprang, könnte sie bei der Bank eventuell sogar wieder ihre Kreditwürdigkeit rehabilitieren. Bianca Käferlein seufzte. Sie stand wieder jemandem im Weg und wurde angerempelt. Sie sah über das weiterhin leere Tablett auf die Grünanlage vor dem Bäcker, das Rasengrün besprenkelt mit schnell schmelzenden Flocken. Eine indische Familie mit zwei hübschen Kindern lief am Schaufenster vorbei und verschwand in einem Asia Shop. Bianca Käferlein gönnte sich einen weiteren langen Seufzer und wandte sich wieder den aufgebackenen Tiefkühlprodukten hinter den beschlagenen Plexiglasscheiben zu. Sie entschied sich schließlich für ein Produkt namens "Geflügelrolle". Der Blätterteig sagte ihr ansatzweise zu. Bianca Käferlein trug das Tablett zur Kasse, wo eine asiatische Frau ihr sorgfältig addiertes Kleingeld mit einem undeutlichen Laut in Empfang nahm und dann irritiert reagierte, weil Bianca Käferlein ihren Platz nicht sofort räumte. Bianca Käferlein war ebenfalls etwas irritiert, weil es ein paar Sekunden dauerte, bis sie verstand, dass sie ihr Gebäckteil selber einpacken mußte. Also trägt sie das Tablet noch einmal durch den dampfigen Verkaufsraum. Erleichtert erinnerte Bianca Käferlein sich nach dieser Demütigung daran, dass es im Büro des Architekten, einer Gründerzeitvilla, im Allgemeinen auch Mittagessen gab. Sie wählte eine mittelgroße Tüte und versteckte ihr Frühstück. Einem Biss konnte sie nicht widerstehen und Bianca Käferlein erschauerte. Unter dem weichen Blätterteig verbarg sich ein verknorpeltes, kaltes Stück Wurstabfall. "Tablett aufräumen Bitte", ertönte es dazu von der Kasse. Gehorsam stellte Bianca Käferlein das Tablett in die passende Ablage, nicht ohne vorher die Schutzfolie ordnungsgemäß im Abfall entsorgt zu haben. Noch einmal seufzte Bianca Käferlein. Dann zog sie ihren Schal stramm und verließ den Laden.

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