Donnerstag, 16. Februar 2012

2012-02-16 Am Desktop

Flann O`Brien meint: "One beginning and one ending for a book was a thing I did not agree with." Daher fängt er sein Buch mindestens dreimal an. Aber müßte da nicht eigentlich noch mehr gehen? Warum bei drei Anfängen aufhören? Warum nach drei Anfängen schon ein Ende setzen?

Denkbar wäre doch auch ein Buch mit unendlich vielen Anfängen. Oder anders ausgedrückt: ein Buch, das nie anfängt aufzuhören. Solange wir hier sind (was für Flann O`Brien zum Beispiel ausdrücklich nicht mehr gilt) fangen wir schließlich auch immer wieder an. Von vorne.

Anderseits sagt man auch: Jedem Ende wohne ein Anfang inne. Oder sagt man das gar nicht. Hat das nur Goethe mal behauptet, oder ist das vielleicht sogar nur ein Postkartenspruch? Oder - schlimmer - kommt das von Herman Hesse?

Wie schlecht der Spruch auch sein mag, wenn wir ihn umkehren, wohnt natürlich in jedem Anfang auch immer schon das Ende. In jedem Buchanfang liegt auch schon sein letzter Satz. In einem dreifachen Buchanfang liegt ein dreifaches Ende.

Und diesen Gedanken könnte man natürlich noch weiterspinnen:
Wie wäre es nun mit einem Buch, das unendlich viele Anfänge hat.
Und damit auch unendlich viele Enden.

Ein Buch, das immer anfängt.

In anderen Worten:
Ein Buch endet ununterbrochen.

2011-12-23 Am S-Bahnsteig

dem typen bin ich doch eigentlich losgeworden, denkt jaap verstegen, den hatte ich eigentlich längst abgebucht, ausgebucht, entbucht, wie sagt man auf deutsch, vergessen, abradiert, angefressen, ausradiert, losgebucht, das kann man auf deutsch im allgemeinen besser sagen, obwohl auf niederländisch fallen mir auch ein paar wörter ein, opgeladen, geboekt, entbucht te vergeten, geërodeerd, gewist, ich mochte ihn ja durchaus ganz gerne, aber es war nun mal kein geld mehr da, natürlich war es etwas ungünstig mit der jobgarantie, aber wat nicht geht, dat geht halt nicht, waren keine guten zeiten damals, die letzten personalumstrukturierungen haben aber doch etwas gebracht, hinter dieser fahrplantafel wird er mich wohl nicht entdecken, kalt ist es am bahnsteig, kalt, zugig, ha, zugige zuge, nein züge, diese umlaute, umlaute, umlaute, zehn jahre in deutschland, umlaute nerven immer noch, was haben die deutschen denn probleme mit ihrem präsidenten, grinst mir vom display entgegen, ist doch ein ganz netter, mal nbierchen wird man doch wohl mal trinken dürfen, aber bedankt, und das haus von der type, und die urlaube sind doch nun wirklich kein skandal, backsteinhäuser im norden, sticht ein bißchen im magen, aber deutsche backsteinhäuser, klobig, kleine fenster, viel zu häßlich, um heimweh auszulösen, heute ist freitag, eigentlich bin ich schon auf dem weg nach hause, hilversum, meine frau, unter ihren decken im rollstuhl, ich werde sie auf den klinkerwegen spazierenfahren, feuer im kamin, warme getränke, der seltene sportwagen in der garage, können wir auch fahren, wenn es nicht zu glatt ist, woow, zieht es am bahnsteig, ist dieser, dieser, na, Robert oder so, noch da, tatsächlich, und ich glaube er hat mich gesehen, schnell umgedreht, direkt in den fahrtwind, mußte wohl sein, damals war nunmal kein geld mehr, gespart an den ineffektiven, das sind nun mal teilzeitkräfte, im grunde genommen, keine ahnung aber, wieso sucht der nicht mal nen richtigen job, in dem alter, muß doch mal aufwachen, studium ist doch wohl auch schon länger her, muß wirklich enthusiastisch gewesen sein, architekturzeitschrift und so weiter, als ob das wichtig wäre, dass er die ganzen architekten beim namen kannte, mir sind sie doch auch gar kein begriff, aber konnte nicht mal mit einem excel spreadsheet umgehen, sogar die maus machte ihm probleme, ich hatte ihn ja ganz vergessen, vielleicht ein, zwei mal auf dem gang gegrüßt, freundlich war er, dauerte immer ein bißchen, bis mir dämmerte, wer das gewesen war, das projekt hat nun mal nichts gebracht, und woanders in unserem konzern hätte man den typen wirklich nicht gebrauchen können, bin mir ganz sicher: er hat mich grad gesehen, aber er scheint mich zu verschonen, immerhin, sagen wir, er ist höflich, sollte mich auch wirklich auf anderes konzentrieren, die neue kreditlinie ist alles andere als abgesegnet, geld soll doch eigentlich nicht mehr knapp sein, griechenland hin, portugal her, mit den gescheiterten projekten im letzten jahr ist natürlich niet gemakkelijk, sollte die präsentation noch einmal überdenken, aber hier ist es doch etwas zugig, oder zuegig, der wetterbericht auf dem bildschirm, jetzt ist er weg - achtung zugeinfahrt - sieht ja nach frühling aus, wenn ich bloss nicht den flug verpasse nach dem investormeeting, das hat die frau legaitis wieder etwas knapp kalkuliert, beschweren würde sich meine frau nie, mich bloß schweigend aus ihrem rollstuhl ansehen, in dem sie die ganze woche auf mich gewartet hat, und eine zusätzliche nacht, wenn ich den flug bloß erwische, ist dieser robert jetzt eigentlich weg, und wo bleibt die s-bahn, alle anderen linien sind doch schon dagewesen, es wird wirklich zeit, das ich nach hause komme

Mittwoch, 1. Februar 2012

2012-02-01 An der Oberfläche

Robert denkt

Wie einfach sich alles anfühlte
Am Anfang, als ich alles erschuf
Die Sicht war klar und strukturiert
Die Bahnen im Nahverkehr fahren nach Fahrplan
Die Leute sterben im gewünschten Rhythmus
Es liegt in meiner Hand

Der alte Mann bekommt die Zeit, über sich nachzudenken
An den Bahnsteigen wird gekämpft
Sei es um Sitzplätze
Oder Aufmerksamkeit
Menschen aus aller Welt teilen den Willen
Weiterzuleben

Wie einfach sich alles anfühlte
Am ersten Morgen
Wie müde ich des Schöpfen bin
Warum
Ich beginne die Menschen zu mögen
Am Rosenheimer Platz
Und dennoch ermüden sie mich


Streng Dich an

Donnerstag, 26. Januar 2012

2011-12-23 An der Straßenbahngleisen

Der alte Mann spürt den Händedruck und sieht die schwankenden Scherenschnitte der Schattenprofile über ihm. Ihm wird bewußt: er lebt. Plötzlich überkommt ihn ein Wärmeschauer, und er ist sich nicht sicher, ob er von dem Händedruck ausgeht, oder von einem überraschenden Aufbäumen an Lebensfreude, oder ob er sich einfach täuscht, und die Kälte ihm Wärme vorgaukelt.
An diesem Händedruck möchte der alte Mann sich festhalten. Er muß sich eingestehen, dass es sonst nicht viel zum Festhalten gibt. Das Taktile des Händedruckes gibt ihm zu denken. Er versucht ihn zu erwidern. Er bewegt seine Finger und bemüht sich um ein langsames Anballen des Handrückens, aber er ist sich nicht sicher, ob außerhalb seiner eigenen Sinne überhaupt etwas passiert ist. Er fühlt die harte Kante, auf der er liegt, und - wie ihm scheint - seit Ewigkeiten emporgehoben wird. Kaltes Holz, in dem ein wenig Restwärme steckt. Der Handgriff seines Regenschirmes. Wo ist mein Regenschirm. Ich hatte einen Regenschirm. Ich stand an der Straßenbahnhaltestelle. Meine Frau stand neben mir. Für sie war noch Platz unter der Überdachung, ich dagegen mußte meinen Regenschirm aufspannen. Ich hatte Probleme. Der Schirm wollte nicht so recht. Ich mußte zerren und rütteln, während der Schnee mir  unangenehm ins Gesicht wehte. Während ihm das alles einfällt, aber er sich nicht mehr bewußt wird, was anschließend geschah, fühlt er mit seiner linken Hand etwas Eisiges, wesentlich unfreundlicher als das Hölzerne des Liegenseitenrandes. Vielleicht der Metallrahmen der Haltestange. Es läßt seine Hand leicht zittern. Er steht wieder auf der Rolltreppe, die vom S-Bahnsteig hinaufführt, vor ihm seine Frau, die sich umdreht, weil ihre Handtasche jemandem im Weg ist, der es eilig hat. In seiner linken Hand spürt er das weiche Holz des Schirmes, rechts gerät seine Hand an das arktiskalte Aluminium der Rolltreppenrampe. Die Rolltreppe rattert unter seinen Füßen. Die eilige Person, ein junger Mann, schimpft, während er an dem alten Mann vorbeischleicht und ihn dabei leicht an das Geländer drückt. Ein wenig ängstlich erwartet er das Ende der Rolltreppe, und er schämt sich seiner Angst. Er wird sich bewußt, dass er auf der Krankenbahre liegt, aber seine Hand zittert noch ein wenig bei dem Gedanken an das Ende der Rolltreppe, hoch über ihnen, seiner Frau, ihm selbst, dem ungeduldigen, jungen Mann, die sich alle dem Ende langsam und unentwegt entgegen bewegen. Sie waren also S-Bahn gefahren, seine weiterhin namenlose Frau und er selbst. Auch der eilige Rolltreppenfahrtteilnehmer, aber noch während er an ihn dachte, erinnert er sich an dessen Irrelevanz. Er hatte ihn sicher nie getroffen, und sicher würde er ihm nie wiederbegegnen. Und wenn doch, auch das wäre bedeutungslos. Ich muß mich auf das wesentliche konzentrieren. Mich selbst. Meine Frau. Meine Angst. Ihr Ziel. Wo kam die S-Bahn her, wohin stiegen sie um. Klinikum Harlaching. Hört er plötzlich eine undeutliche Lautsprecheransage knistern. Klinikum Harlaching. Auch auf der Rolltreppe, im Zugwind der veralteteten Entlüftungsanlagen, denkt er an das Klinikum Harlaching. Er erinnert die Angst auf der Rolltreppe, und plötzlich weiß er, dass er vor dem Ende der Rolltreppe nicht Angst hat, weil er dort einen kleinen, schon tausendmal wiederholten Schritt auf festen Boden machen wird, sondern weil das Ende der Rolltreppe ihn unwiederbringlich dem Klinikum in Harlaching näher bringen wird. Und ebenso plötzlich erinnert er sich an die Augen seiner Frau, als sie sich, auf der Rolltreppe vor ihm stehend, zu ihm umdrehte, Augen, in denen kein Ärger gegenüber dem ungeduldigen, jungen Menschen stand, sondern die Angst vor dem Ende der Rolltreppe. Das Leben ist eine Rolltreppe, denkt er einen kurzen Moment, erfreut, weil ihm der Satz gefällt, während seine beiden Hände sich an Holz und Aluminium der Liege ballen, und er versucht krampfhaft in den Köpfen über ihm seine Frau zu erkennen, wenn er sich bloß für einen Moment an ihren Namen erinnern könnte. In genau diesem Moment bleibt ihm nichts als die Erinnerung an die Angst in ihren Augen, vorerst.
Und mein Name, denkt der alte Mann noch, wie lautet denn mein Name.

Mittwoch, 18. Januar 2012

2011-23-12 Beim Selbstbedienungsbäcker

An einem trüben Morgen, die Sonne war kaum aufgegangen, betrat Bianca Käferlein den Selbstbedienungsbäcker am Rosenheimer Platz. Es war der 23. Dezember 2011. Der Morgen war verhältnismäßig mild, trotzdem fielen langsam und vereinzelt ein paar einsame Schneeflocken. Bianca Käferlein war eine schlanke, durchaus schöne Frau, die vielleicht etwas zu viele Solarien aufgesucht hatte, um immer nach Dubai auszusehen. In Dubai hatte sie zwar tatsächlich ihren Wohnsitz, aber wer sitzt in Dubai schon in der Sonne? Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdezopf gebunden und hochgesteckt. Sie trug hellbraune Lederstiefel und eine weiße Weste. Bianca Käferlein hatte nicht gut geschlafen. Viele Sorgen und Alltäglichkeiten haben sie beschäftigt gehalten. Das vorweihnachtliche Shopping auf der Maximilianstraße am Vorabend war ein nervenraubendes Desaster. Das befreundete Architektenpaar war von einem prächtig ausgestatteten Schaufenster zum nächsten gezogen und die Anzahl der Designertüten in ihren Händen steigerte sich proportional zu den zurückgelegten Schaufenstermetern. Ähnlich proportional sanken Bianca Käferleins imaginäre Fähigkeiten, einleuchtende Gründe zu finden für die weniger proportionale Stagnation von Einkaufstaschen in ihren eigenen Händen. Bloß keinen Grund zu haben, eine Kreditkarte benutzen zu müssen, das war ihre gestrige Devise. Ihre Strategie war insgesamt aufgegangen, wenn auch erkämpft mit mühsamer, an der Maximilianstraße hoch unpassender Konzentration und der erwähnten, überstrapazierten Imagination.

So mühsam es war, nicht gezwungen zu sein, ihre gesperrten Kreditkarten zu benutzen, so nervenraubend war es, ihre Übernachtung in einer Jugendherberge zu verbergen. Sie sah sich am Ende gezwungen, es ihren Freunden gleich zu tun und ebenfalls ein Taxi zu bestellen, nur um es hinter der nächsten Straßenecke wieder im Stich zu lassen. Ihr beinahe letztes Kleingeld reichte gerade für die Grundgebühr. Bianca Käferlein lief durch die gesamte und (wie ihr schien, denn sie hatte in der Vergangenheit immer ein Taxi gerufen) erstaunlich umfangreiche Fußgängerzone in die Bahnhofsgegend, wo sie in einem Hostel ein Bett vorgemerkt hatte. Es stellte sich heraus, dass es sich um ein Bett in einem Dreibettzimmer handelte. Sie teilte sich den Raum mit einer Mutter und ihrem ungefähr fünfzehnjährigen Sohn, die beide zum ersten Mal in München waren. Die nächtliche Gegenwart des Pubertierenden erschien Bianca Käferlein höchst peinlich, aber ein eigenes Zimmer war in der notwendigerweise angefragten Preisklasse nicht zu finanzieren.

Bianca Käferlein hatte einen Selbstbedienungsbäcker nie zuvor betreten. An diesem trüben Morgen nahm sie zum ersten Mal ein Tablet in die Hand, stülpte sich einen Plastikhandschuh über und stellte indigniert fest, dass niemand sonst die Schutzhandschuhe benutzte. Sie betrachtete das Angebot und seufzte. Sie sehnte sich nach einem Lachsfrühstück mit Ei und ein wenig Sekt. Eigentlich sehnte sie sich nach einer Menge Sekt. Sie schob das Tablett einmal das Angebot entlang und dann wieder zurück. Ein paar Leute beschwerten sich, sie hatten es offenbar eilig. Auch Bianca Käferlein hatte es durchaus eilig an diesem Dezembermorgen. Sie würde das Architekturbüro ihrer Freunde für eine Präsentation benutzen und sie wußte zudem, dass das ihre einzige Möglichkeit sein würde, in den nächsten 24 Stunden das Internet kostenfrei zu nutzen. Zum Glück hatte sie mit ihrer Mutter ein Treffen in der Stadt ausgemacht und sich so die Unannehmlichkeit erspart, um Geld für die Zugfahrt bitten zu müssen. Nun wird sie mit ihrer Mutter zurückfahren können und anschließend ein paar Tage Zeit haben, in denen sie sich um Unterkunft und Verpflegung keine Sorgen machen muß. Bianca Käferlein zwang sich dazu, ihre Konzentration wieder dem Angebot des Bäckers zuzuwenden. Sie mußte etwas essen, denn sie wußte, dass von der Präsentation viel abhing. Wenn es gutlief und ein Vorvertrag heraussprang, könnte sie bei der Bank eventuell sogar wieder ihre Kreditwürdigkeit rehabilitieren. Bianca Käferlein seufzte. Sie stand wieder jemandem im Weg und wurde angerempelt. Sie sah über das weiterhin leere Tablett auf die Grünanlage vor dem Bäcker, das Rasengrün besprenkelt mit schnell schmelzenden Flocken. Eine indische Familie mit zwei hübschen Kindern lief am Schaufenster vorbei und verschwand in einem Asia Shop. Bianca Käferlein gönnte sich einen weiteren langen Seufzer und wandte sich wieder den aufgebackenen Tiefkühlprodukten hinter den beschlagenen Plexiglasscheiben zu. Sie entschied sich schließlich für ein Produkt namens "Geflügelrolle". Der Blätterteig sagte ihr ansatzweise zu. Bianca Käferlein trug das Tablett zur Kasse, wo eine asiatische Frau ihr sorgfältig addiertes Kleingeld mit einem undeutlichen Laut in Empfang nahm und dann irritiert reagierte, weil Bianca Käferlein ihren Platz nicht sofort räumte. Bianca Käferlein war ebenfalls etwas irritiert, weil es ein paar Sekunden dauerte, bis sie verstand, dass sie ihr Gebäckteil selber einpacken mußte. Also trägt sie das Tablet noch einmal durch den dampfigen Verkaufsraum. Erleichtert erinnerte Bianca Käferlein sich nach dieser Demütigung daran, dass es im Büro des Architekten, einer Gründerzeitvilla, im Allgemeinen auch Mittagessen gab. Sie wählte eine mittelgroße Tüte und versteckte ihr Frühstück. Einem Biss konnte sie nicht widerstehen und Bianca Käferlein erschauerte. Unter dem weichen Blätterteig verbarg sich ein verknorpeltes, kaltes Stück Wurstabfall. "Tablett aufräumen Bitte", ertönte es dazu von der Kasse. Gehorsam stellte Bianca Käferlein das Tablett in die passende Ablage, nicht ohne vorher die Schutzfolie ordnungsgemäß im Abfall entsorgt zu haben. Noch einmal seufzte Bianca Käferlein. Dann zog sie ihren Schal stramm und verließ den Laden.

Montag, 9. Januar 2012

2011-12-23 Vor dem Vier-Sterne-Hotel

Füllen Sie die Registrierung bitte vollständig aus
Familie Narayan sieht vor ihrem Hotel zum ersten Mal Schnee. Sie sieht ihn nicht nur - sie fühlt ihn, winzige, eisige Winterküsse. Auf der Zunge, auf den Fingern, auf der Nasenspitze, in den Ohrlöchern.

Erwartete Ankunftszeit der Gäste: 22.12.2011, nach 8 Uhr abends
Offiziell sah Familie Narayan den Schnee schon gestern abend zum ersten Mal, auf der Taxifahrt vom Flughafen zum Hotel. Aber sie verließen nur kurzzeitig die Wärme der Flughagenlobby, wettermäßige Normalität vortäuschend, und meinten, auf dem kurzen Weg zum Taxi zu erfrieren. Der Schock der Kälte war zu groß, um die nassen Flocken wahrzunehmen, die in Gesichter und Handflächen peitschten.
Aus den Taxifenstern sah die Welt dunkel und sehr mühsam aus. Sie sahen alte Leute, die sich den Weg durch das Wetter arbeiteten. Ihnen erschien es wie ein Schneesturm.

Nothing special, meinte der Taxifahrer, just winter.

Unser abwechslungsreiches Frühstückbuffet erwartet sie ab 7:30 Uhr
Der Tag hat etwas unerfreulich mit einem unerträglichen Frühstücksbuffet begonnen. Alle vier haben fast nichts gegessen. Zum größten Teil bestand das Frühstück aus trockenen, rundlichen Gebäckteilen, die ein unangenehmes Völlegefühl im Magen hervorrufen, aber nach nichts schmecken. Sie beobachteten die anderen Gäste, die das Gebäck anscheinend mit Butter erträglich zu gestalten versuchten und es mit dünnen Käse- und häßlichen, rohen Fleischscheiben belegten. Die Kinder hatten noch nie etwas so fades und schwer verdauliches gegessen. Gewürze gab es nicht, nur Salz und Pfeffer. Letzten Endes aßen sie alle ein paar Eier, die aber gänzlich verkocht und kaum zu schälen waren. Herr Narayan weiß bereits, was er als nächstes googeln wird: indische Restaurants. Gegenüber des Hotels gibt es sogar einen Asia Shop, den werden sie als nächstes aufsuchen.

Genießen Sie die Lage unseres Hotels inmitten der Weltstadt mit Herz
Herr Narayan stellte gestern abend außerdem noch fest, dass das Hotel direkt neben einer Bibliothek liegt - "Stadtbücherei" versucht er zu lesen, aber er scheitert an dem Umlaut und dem seltsamen "ch". Er googelt noch abends im Hotelzimmer, ob es dort Bücher von seinem Großvater gibt. Tatsächlich stößt er auf 10 Einträge. Wie merkwürdig, den Namen seines Großvaters hinter den fremdsprachigen, unverständlichen Buchtiteln zu lesen. Seinen eigenen Namen, in einem fremden, klobigen Backsteingebäude, kein Banyanbaum weit und breit, nur blätterlose, von der Nässe geschwärzte Baumgerippe, die sich ohne ihr Laub nicht einmal identifizieren lassen. Herr Narayan würde gerne sehen, wie häufig die Bücher seines Großvaters in dieser unbekannten Welt gelesen werden, aber dazu gibt es keine Angaben. Er nimmt sich vor, in den nächsten Tagen in der Bibliothek den zehn Büchern einen Besuch abzustatten.

Mit dem My Little Hotel VIP Programm werden Ihre Kinder am eigenen Check-in begrüßt. Hier bekommen Sie einen Teddy Bär und einen Rucksack gefüllt mit Willkommensgeschenken.
Heute morgen sind die beiden Kinder vom Schnee begeistert. Hanuman klettert lachend auf einen kleinen, steinernen Bären. Seine Mutter sorgt sich, weil der Stein sehr kalt ist, und zehrt noch einmal die Handschuhe gerade. Der Wind hat nachgelassen und der Schnee peitscht nicht mehr durch die Straßenschluchten und in die nassen Gesichter. Die Flocken sind so dick und flauschig, sie sehen aus wie Kunsttschnee aus Bollywoodfilmen. Sie fühlen sich nicht mehr wie Nagelstiche an, sondern landen beinahe zärtlich auf Sitas unglaublich langen Wimpern. Sie versucht die Flocken mit ihren Händen festzuhalten, und ist enttäuscht, dass sie in ihren warmen, kleinen Handflächen sofort wegschmelzen. In den weißen, langsam fallenden Flocken osziliiert das Blaulicht des Krankenwagens, der auf der anderen Seite des Platzes auf den Straßenbahnschienen steht.

Wie hat Ihnen Ihr Aufenthalt gefallen?
Frau Narayan wird dieser Tag und diese Reise aber nicht wegen des Schnee unvergeßlich bleiben, noch wegen des dürftigen Frühstücks. Gestern abend war ihre zweijährige Tochter depressiv. Frau Narayan hat die ganze Nacht nicht geschlafen.
Ihr Tochter bekam ihm Waschbecken des Badezimmers ihr abendliches Bad. Nichts ist vergnüglicher, als ihr dabei zuzusehen. Sie planscht, sie rührt das Badewasser in ihrem kleinen Spielkochtopf, sie singt, sie malt mit dem Wassermalstift Kringel an den Beckenrand.
Aber plötzlich hält sie inne.
Mama, sagt sie langsam, Mama, empty. Sie hebt den Kochtopf in die Höhe. Es scheint, sie habe plötzlich entdeckt, dass ihr Spiel und das Kochen nur in ihrer Einbildung existieren. Der Topf ist ja leer! Er ist immer leer gewesen!
Sie sieht ihre Mutter mit abgrundtiefen Augen an, und senkt dann ihren Blick. Frau Narayan hat den Eindruck, das kleine Mädchen schäme sich.
Oder sie mache ihrer Mutter einen stummen Vorwurf: warum hast du mir nichts davon gesagt.
Sie ist zwei Jahre alt. Ihre Arme hängen schlaff im grünlichen Wasser des Erkältungsbades, welches ihre Mutter vorsorglich benutzt hat. Vielleicht ist das ganze Leben eine Illusion. Vielleicht sind alle Töpfe leer. Vielleicht ist alles, was Spaß macht, erfunden. Vielleicht tun alle nur so.Vielleicht gibt es Spaß überhaupt nicht. Vielleicht ist das Beste am Leben schon vorbei.
Frau Narayan versucht, sie aufzumuntern. Sie planscht mit dem Wasser. Sie läßt den violetten Spielzeug-Rochen ein Lied singen. Sie verdreht ihre Augen. Sie kitzelt Sita. Sie fährt laute, kreisrunde Wege mit dem kleinen Plastikboot. Sie singt selbst ein Lied.

Sita sitzt stumm im Wasser und rührt sich nicht. Ein großer Wassertropfen löst sich von ihren Wimpern und läuft über ihre Wange. Sie sagt langsam, während sie den Kopf schüttelt: No, Mama, No.

Dienstag, 3. Januar 2012

2012-01-03 Desktop


Der 23. Dezember? Wird das eine Weihnachtsgeschichte?

Bloß nicht.
Dagegen spricht einiges.


  1. Ich habe noch nie Weihnachten gefeiert.
  2. Heute ist sowieso schon Januar. Der Weihnachtsmarkt gegenüber der Straßenbahnhaltestelle am Rosenheimer Platz wurde bereits abgebaut.
  3. Auch wenn in religiösen Fragen sonst wenig Einigkeit herrscht, so kann doch mit einiger Sicherheit behauptet werden, dass Jesus weder am 24. Dezember noch an einem der beiden Weihnachtsfeiertagen geboren wurde.
  4. Falls ich jemals die Versuchung verspürt hätte, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben, dann haben die Weihnachtslieder aus Love Actually, die wochenlang in meinem Büro gespielt wurden, jede potentielle Versuchung unterdrückt.
  5. Überhaupt: Weihnachtslieder 
  6. Wenn ich abends meinen Hund ausführe, begegnen uns (auch in der Nachweihnachtszeit) drei überlebensgroße, aufblasbare als Weihnachtsmänner verkleidete Schneemänner (kann man bei Nikolausen und Osterhasen eigentlich von Lebensgröße sprechen?), die mir täglich Überkeit bereiten und meinen Hund (und möglicherweise nicht nur ihn) zum Terroristen werden lassen.
  7. Eigentlich gäbe es nur einen Grund: Glühwein, aber irgendwie reicht mir das nicht.
  8. Und selbst Glühwein ist nur erträglich, wenn es wirklich eisig kalt ist, und weil man nun mal auch im Winter das Bedürfnis hat, nach draußen zu gehen, manchmal. Und der jetzige Winter ist bekanntlich eher mild.
  9. Womit beginnt Myles na gCopaleen seine Aufzählung von Langeweilern? "Chrismas come and gone, eh?" Wer würde Flann O`Brien widersprechen. 
  10. Das sollte ja wohl reichen.